Wenn die Zeit drängt
„Wird Zeit, dass der unter den Sattel kommt. Der ist jetzt schon drei, ich will ja auch mal was von dem Pferd haben.“ – „Der ist jetzt schon vier und bringt seinen dritten Fohlenjahrgang.“ – „Was, das Pferd ist schon fünf und wird jetzt erst angeritten? Na Prost Mahlzeit…“
Es ist noch gar nicht so lange her, da hätte ich solchen Aussagen vielleicht zugestimmt. Unser erstes Familienpferd wurde Ende der 90er dreijährig relativ problemlos angeritten. Warum? Man macht das eben so. Ich selbst war damals noch viel zu jung, um viel über die damalige Ausbildung berichten zu können. Inzwischen durfte ich viel mehr Erfahrung mit Jungpferden sammeln (und wichtig: ich lerne noch immer!) und habe eine deutlich andere Einstellung gegenüber diesem Thema entwickelt.
Zum Einen stoße ich mich sehr an solchen Aussagen, sie sind für mich ein Begleitsymptom unserer schnelllebigen, auf Leistung ausgelegten Gesellschaft. Sie zeigen eine bestimmte Mentalität, die in unserer Pferdewelt in den letzten Jahrzehnten recht präsent war, die seit den letzten Jahren bereits allmählich eine positive Veränderung erfährt, aber leider noch immer in den Köpfen vieler Pferdebesitzer, Züchter und Reiter vorhanden ist. Das Pferd als reines Nutztier zu sehen, das Entweder eine Rolle als Zuchttier oder Reit- bzw. Fahrpferd zu erfüllen hat und es, falls es diese Rolle nicht erfüllen kann, übereilt und kopflos weggestellt oder verkauft wird.
Die Vorstellung, ein Pferd allein für das Reiten anzuschaffen ist mir grundlegend fremd. Das Reiten sollte in meinen Augen nur die Krönung einer besonderen Beziehung zwischen Mensch und Tier sein. Fragen wie „Welche Pläne hast Du für dieses Pferd? Was soll das Mal machen?“, beantworte ich inzwischen mit „Das darf das Pferd selbst entscheiden.“
Meine Gründe dafür sind relativ vielfältig. Ich bin mit dem Wissen groß geworden, dass das Anreiten eines Pferdes mit zwei Jahren noch zu früh ist, dass solche Pferde schnell und stark verschleißen, wie es Galopprennpferde meist recht eindeutig zeigen. Dass mit einer ordentlichen Ausbildung „erst“ im Alter von drei Jahren begonnen werden sollte. Aber wieso drei? Aus Pferdepsychologischen Gründen? Aus körperlichen mit Sicherheit nicht, vollkommen ausgewachsen sind Pferde erst deutlich später. Rasseabhängig zwischen sechs und sieben. Und Wachstum bringt bekanntermaßen Balance-Probleme, Unausgeglichenheit und mitunter auch Schmerzen mit sich. Zahnwechsel bis ins fünfte Lebensjahr hinein, Taktunreinheiten, eine kurze Konzentrationsspanne… die Liste der jungpferdetypischen Probleme ist recht lang. Pferdemenschen wie Babette Teschen (https://www.wege-zum-pferd.de/2010/10/26/was-das-wachstum-mit-sich-bringt/), äußern diese Art von Bedenken schon seit Langem!
Die Idee, das Pferd darüber entscheiden zu lassen, was bzw. wann es etwas macht klingt in der Theorie wunderbar. Oft habe ich erlebt, dass Pferdebesitzer bzw. Reiter sich mit dieser Idee gut anfreunden können, eine Zeit lang. Bis sich das Pferd „daneben“ benimmt, schwer zu handeln ist (die Gründe dafür seien an dieser Stelle einfach Mal dahingestellt), dann soll es mit dem Anreiten plötzlich sehr schnell gehen (damit es gefälligst Respekt lernt). Zeit Lassen bedeutet jedoch in meinen Augen nicht, das Pferd möglichst lange auf der Weide stehen zu lassen, bis auf Führen und Hufpflege kaum Interaktion mit dem Menschen zu bieten, bis das Pferd eine scheinbar magische Grenze von drei oder vier Jahren überschritten hat und dann in wenigen Wochen Profiberitt unter den Reiter zu bringen.
Ein Jungpferd braucht Grundlagen, es braucht einen festen Rahmen. Es braucht Artgenossen, nicht nur Gleichaltrige, an denen es sich orientieren kann. Die erfolgreiche Erziehung eines jungen Pferdes, ist mit der Erziehung eines Menschenkinds durchaus in einigen Punkten zu vergleichen. Genauso wie ein Kind braucht auch ein Pferd Ansprache, Verständnis, Geduld und es gilt ihm Freude am Lernen zu vermitteln.
Ich habe mich deshalb auch gefragt, woher diese Eile in der Ausbildung kommt? Mit Sicherheit ursprünglich aus dem Bereich der Pferdezucht und des Profisports. Bestimmte Turnierklassen haben Altersbeschränkungen, um eine vergleichbare Wettbewerbssituation zu schaffen. Das heißt nicht automatisch, dass Jungpferde, die für diesen Bereich des Sports ausgebildet werden, schlecht oder zu früh trainiert werden. Im Gegenteil, Pferde, die in Profiberitt gehen, werden oft mit großer Sorgfalt und sehr gezielt auf ihre Aufgaben vorbereitet. Das Problem, das ich darin sehe ist vielmehr, dass sich Amateure und Freizeitreiter mitunter an den Trainingsmethoden des großen Sports orientieren. Und in diesen Bemühungen ihren Vorbildern nachzueifern, plötzlich eine große Eile an den Tag legen, die letztlich das betroffene Pferd unter enormen Druck setzt.
Ein Grund für eher frühes Anreiten, den ich egal ob von Sportreitern, Trainern oder Freizeitreitern immer wieder höre ist die Psychische Entwicklung des Pferdes. Ein Pferd, das zu spät unter den Sattel kommt, hätte „schon andere, eigene Vorstellungen vom Leben“, würde sich nicht mehr gefügig reiten lassen. Außerdem ist Zeit immer noch Geld, jeden Monat, jedes Jahr, das sich ein Jungpferd ohne „Nutzen“ in der Aufzucht befindet, kostet.
In meinen Augen sollte aber die Zeit im Training mit dem Pferd, egal in welchem Alter nur eine nebensächliche Rolle spielen. Mir sind die Jungpferde, die bereits von Anfang an eine solide Grunderziehung genossen haben, meist lieber, als solche, die weitestgehend unberührt in großen Jungpferdeherden verbracht haben. Zum einen bestehen in der Natur (mit Ausnahme von Bachelor-Herden) solche Zusammenschlüsse nicht, zum Anderen unterscheidet sich ein domestiziertes Pferd vom Wildpferd ganz grundlegend in dem Punkt, dass es lernen MUSS, mit dem Menschen zu kooperieren. Ich käme dennoch nicht auf die Idee, ein Pferd, welches mitten in einem Wachstumsschub ist, daher unausgeglichen und unausbalanciert, so schnell wie möglich unter den Sattel zu schicken, nur damit es nun geritten ist und „korrigiert“ werden kann. Stattdessen denke ich in diesem Zusammenhang an Michael Endes „Momo“:
„’Siehst Du, Momo‘, sagte er, ‚es ist so: Manchmal hat man eine sehr lange Straße vor sich. Man denkt, die ist so schrecklich lang, die kann man niemals schaffen, denkt man.‘
Er blickte eine Weile schweigend vor sich hin, dann fuhr er fort:
‚Und dann fängt man an, sich zu eilen. Und man eilt sich immer mehr. Jedes Mal, wenn man aufblickt, sieht man, dass es gar nicht weniger wird, was noch vor einem liegt. Und man strengt sich noch mehr an, man kriegt es mit der Angst zu tun, und zum Schluss ist man ganz aus der Puste und kann nicht mehr. Und die Straße liegt immer noch vor einem.
So darf man es nicht machen!‘
Er dachte einige Zeit nach. Dann sprach er weiter:
‚Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst Du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, den nächsten Atemzug, den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur den nächsten.‘
Wieder hielt er inne und überlegte, ehe er hinzufügte:
‚Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. Und so soll es sein…“
Ich finde die Jungpferdearbeit sollte ausgeglichen sein, immer wieder Neues bieten, in kleinen überlegten Schritten immer weiter in Richtung Reiten und/oder Fahren führen. Und unterwegs gilt es für Alle Beteiligten vor allem Freude aneinander und am gemeinsamen Vorhaben zu entwickeln.